DIE ZEIT
Politik 39/2002
Ein Ultimatum an die Völkergemeinschaft
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Mit der Drohung eines einseitigen Militärschlags zwingt George W. Bush den Vereinten Nationen sein Kriegsziel auf
von Robert Leicht
Hochverrat, so sagte es einmal der berüchtigte französische Außenminister Talleyrand, ist eine Frage des Zeitpunkts. Manchmal gilt dies auch für das Völkerrecht. Am 7. Juni 1981 bombardierte die israelische Luftwaffe den im Bau befindlichen irakischen Nuklearreaktor Tamuz I. Nur fünf Tage später verurteilte der UN-Sicherheitsrat - mit der Stimme der USA - diesen "vorsätzlichen Angriff" als eine klare Verletzung des Völkerrechts. Mit welchem Recht könnten sich die USA heute anschicken, das im großen Stile zu unternehmen, was sie gegenüber Israel verurteilt hatten?
Das Völkerrecht ist keine Straßenverkehrsordnung, die sich ziemlich gut überwachen lässt. Das internationale Recht wird nur zu oft zwischen Macht und Gewalt gedehnt, gebeugt und gebrochen. Aber das Unrecht des anderen legitimiert noch lange nicht die eigene Verletzung des Völkerrechts. Die Macht des Faktischen begründet kein Recht des Stärkeren. Wie also wäre ein Krieg gegen den Irak rein völkerrechtlich zu beurteilen?
Die Hauptregel des modernen Völkerrechts, nämlich das absolute Gewaltverbot, findet sich im Artikel 2, Absatz 4 der Charta der Vereinten Nationen von 1945: "Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt."
Das klingt zu schön, um wahr zu sein. Aber von diesem umfassenden Gewaltverbot kennt das Völkerrecht nur zwei Ausnahmen. Die erste Ausnahme vom Gewaltverbot ist das naturgegebene Selbstverteidigungsrecht eines jeden Staates (Artikel 51 der Charta). Die zweite Ausnahme betrifft die kollektiven Zwangsmaßnahmen der Vereinten Nationen nach Artikel 42 und 53 der Charta: Danach kann der UN-Sicherheitsrat bestimmten Mitgliedsstaaten oder auch regionalen Bündnissen den Einsatz von Gewalt erlauben.
Gewaltverbot mit Ausnahmen
Wenn die USA einen Krieg gegen den Irak führen wollen, stehen sie also zunächst vor einer scheinbar einfachen Alternative: Entweder wählen sie eine Aktion außerhalb des Systems der Vereinten Nationen - dann muss es sich um den Fall der Selbstverteidigung handeln, und zwar entweder der individuellen Selbstverteidigung Amerikas oder der kollektiven Selbstverteidigung eines angegriffenen Bündnisses, wie dies im Krieg gegen die Taliban der Fall war. Oder die USA drängen auf ein kollektives Vorgehen der Vereinten Nationen - dann müssen die Voraussetzungen gegeben sein, unter denen die UN nach ihrer Charta Zwangsmaßnahmen verhängen kann. George W. Bushs jüngste Rede vor der Generalversammlung enthielt im Grunde ein Ultimatum: Entweder bringt ihr Saddam Hussein zur Räson - oder wir gehen einseitig gegen ihn vor.
Aber wäre ein solches einseitiges Vorgehen der USA völkerrechtlich gedeckt? Als Akt des Selbstverteidigungsrechtes kaum. Denn die Selbstverteidigung setzt einen bewaffneten Angriff voraus. Was unter einer Aggression zu verstehen ist, hat die UN-Vollversammlung im Jahr 1974 in einer Resolution definiert. Dazu zählt neben den "klassischen" Angriffshandlungen auch die Duldung von "bewaffneten Banden, Gruppen, Freischärlern oder Söldnern", die von einem Staat aus gegen einen anderen vorgehen. Doch die meisten Autoren, die in der inneramerikanischen Debatte für einen Krieg gegen den Irak plädieren, stützen sich nicht auf ein akutes Selbstverteidigungsrecht. So schrieb Kenneth M. Pollack in Foreign Affairs, der Sturz Saddam Husseins sei keine notwendige Komponente im Krieg gegen den Terrorismus. Der Irak stelle eine heraufziehende Gefahr da, bin Laden und seine Komplizen aber eine unmittelbare.
Strittig ist nun im Völkerrecht, ob es eine erlaubte "präventive Selbstverteidigung" gibt. Einerseits, heißt es, könne der betroffene Staat, zumal angesichts der heutigen Waffentechnik, nicht gezwungen werden, erst einen Angriff über sich ergehen zu lassen, bevor er sich zur Wehr setzen dürfe. Andererseits drohe bei der Billigung jeglicher "präventiver Selbstverteidigung" die unerträgliche Ausweitung dieser Befugnis. Der Präventivkrieg Israels gegen Ägypten im 6-Tage-Krieg war in diesem Sinne von einigen Staaten für gerechtfertigt gehalten worden. Im Wesentlichen zitiert das Völkerrecht immer noch die Caroline-Klausel aus dem Jahr 1837, die Präventivhandlungen nur in den Fällen für zulässig hält, "in denen die Notwendigkeit der Selbstverteidigung unmittelbar gegeben und überwältigend ist und in denen weder eine Wahl der Mittel noch eine Möglichkeit von Verhandlungen bleibt." Ein Präventivkrieg ist also allenfalls in engen Grenzen erlaubt. Ein "präemptiver Krieg", also ein Krieg, der bereits das Aufkommen einer Gefahr im Keim ersticken will, bleibt verboten - daher die gemeinsame Verurteilung des israelischen Angriffs auf Tamuz I. Der präemptive Krieg ist de facto ein Angriffskrieg. Für Deutschland wäre jede Teilnahme an einem solchen Krieg erst recht unzulässig, völkerrechtlich wie innerstaatlich: Das ergibt sich zwingend aus dem Zwei-plus-Vier-Abkommen und aus dem Grundgesetz.
Liest man die Rauchzeichen aus der amerikanischen Administration richtig, so haben sich allerdings jene, die für einen einseitigen Militärschlag gegen den Irak plädierten, mit solchen Unterscheidungen nicht lange aufgehalten. Ihr Ziel war eine bedingungslose Beseitigung von Saddam Hussein. Ein Krieg mit diesem Ziel verstieße aber eklatant gegen die Kardinalregel des Völkerrechts, nämlich gegen die Achtung der territorialen Integrität aller Staaten und gegen die Nichteinmischung in deren innere Angelegenheiten. Gewiss, das absolute Interventionsverbot schützt mit der äußeren Stabilität der Ordnung leider auch die nackte Tyrannenherrschaft, solange sie nicht selber Angriffskriege führt. Aber ohne dieses Prinzip ließe sich schlechterdings keine internationale Ordnung aufrechterhalten.
Kriegsziel: Regimewechsel
Deshalb bezeichnete der frühere US-Außenminis-ter Henry Kissinger einen Krieg mit dem Ziel eines Sturzes von Saddam Hussein völkerrechtlich als "revolutionär": Der Regimewechsel "als Ziel einer Militärintervention verstößt gegen das System internationaler Beziehungen, das 1648 durch den Westfälischen Frieden errichtet wurde und welches das Prinzip der Nicht-Intervention in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten verankerte. Außerdem läuft der Begriff einer gerechtfertigten Präemption dem modernen Völkerrecht zuwider, das den Einsatz von Gewalt zur Selbstverteidigung nur gegen akute, nicht aber gegen potentielle Drohungen erlaubt."
Gerade in jüngster Zeit gibt es allerdings eine Tendenz im Völkerrecht, das Interventionsverbot immerhin dort zu relativieren, wo es anderenfalls zur Untätigkeit gegenüber nacktem Genozid zwingen würde. Aber schon im Fall des Kosovo scheiterte der Versuch, solche "humanitären Interventionen" an ein Mandat der Völkergemeinschaft zu binden. Die Nato bombardierte Serbien ohne UN-Mandat - ein Mandat scheiterte letztlich daran, dass der Kosovo völkerrechtlich ein integraler Bestandteil Serbiens ist, also kein eigener Staat mit Selbstverteidigungsrecht. Andererseits sind es gerade die USA, die sich einem dieser neueren Versuche widersetzen, wenigstens Kriegsverbrecher dem Schutz des Interventionsverbots zu entziehen - siehe ihren massiven Widerstand gegen den Internationalen Strafgerichtshof.
Wie auch immer: Ausnahmen von diesem strikten Interventionsverbot lässt das Völkerrecht nur im Rahmen der UN-Charta zu - und dies auch nur zu Zielen, die mit der Charta zu vereinbaren sind, gewiss also nicht zum Zwecke eines Regimewechsels irgendwo in der Welt. Mit seiner Rede vor der UN-Vollversammlung hat Präsident George W. Bush die Vereinten Nationen ultimativ aufgefordert, den Irak zur lückenlosen Erfüllung aller einschlägigen Resolutionen des Sicherheitsrates aus dem Jahr 1991 zu zwingen. Er blätterte das in der Tat beträchtliche Sündenregister des Irak auf, ohne freilich die schlagenden Beweise für einen Fall der akuten Selbstverteidigung auf den Tisch zu legen. Zum einen, und das mag die Völkerrechtler beruhigen, kündigte er an, die USA würden mit dem Sicherheitsrat auf die "notwendigen Resolutionen" hinarbeiten. Damit wird ein komplizierter Streit über die Frage vermieden, ob die elf Jahre alten Waffenstillstandsresolutionen, mit denen der Golfkrieg beendet wurde, heute noch unmittelbare Rechtstitel für einen Militärschlag gegen den Irak hergeben. Zum anderen aber, und das wird Völkerrechtler beunruhigen, hatte der amerikanische Präsident es offen gelassen, wie Washington sich verhalten werde, falls der Sicherheitsrat entweder nicht die "richtigen" Resolutionen fassen oder nicht die "richtigen" militärischen Maßnahmen mandatieren werde. Seine Rede hielt das Pulver für einen einseitigen Militärschlag trocken.
Er zwingt also die UN mit der Drohung eines an sich völkerrechtswidrigen Militärschlags der USA zur Billigung von Zwangsmaßnahmen, die nur begrenzten Zielen dienen dürfen (der Durchsetzung der Resolutionen), die aber in ihrem Verlauf leicht zum ursprünglich verbotenen Kriegsziel benutzt werden können: zum Regimewechsel von außen. Wird sich wieder einmal die Macht des Faktischen über die Ohnmacht des Rechts hinwegsetzen? Und wird sich am Ende nicht auch die Ohnmacht des Faktischen erweisen: den Krieg gewonnen - aber nicht die Stabilität in der Region?
Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden (Rosa Luxemburg)