Seit letztem Sonntag, geht mir eine Frage nicht mehr aus dem Kopf und quält mich selbst im Schlafe noch. Was bringt einen jungen Palästinenser, der in den Kibbuz Metzer einbrach, dahin, mit seiner Waffe auf eine Mutter und ihre beiden kleinen Kinder zu zielen und sie zu töten?
Selbst in einem Krieg tötet man keine Kinder. Das ist ein fundamentaler menschlicher Instinkt, der allen Völkern und Kulturen gemeinsam ist. Selbst ein Palästinenser, der Rache nehmen möchte für die Hunderte von der israelischen Armee getöteten Kinder, sollte sich nicht an Kindern rächen. Es gibt kein moralisches Gebot: " Kind um Kind" .
Leute, die so etwas tun, sind nicht von Geburt an als irre Killer oder als blutdürstig bekannt. In fast allen Interviews mit Verwandten und Nachbarn werden sie als ganz gewöhnliche, nicht gewalttätige Individuen beschrieben. Viele von ihnen sind keine religiösen Fanatiker. Sirhan Sirhan, der tatsächlich diese Tat in Metzer getan hat, gehört der Fatah, einer säkularen Bewegung, an.
Diese Leute gehören zu allen sozialen Klassen, einige kommen aus armen Familien, die an der Schwelle der Hungersnot stehen, andere kommen aus der Mittelklasse, sind Studenten, gebildete Leute. Ihre Gene sind nicht anders als die unsrigen.
Was bringt sie nun aber dazu, solche grausamen Dinge zu tun? Wie kommt es, dass andere Palästinenser ihr Tun rechtfertigen?
Um damit fertigzuwerden, muss man verstehen --- was nicht rechtfertigen heißt.
Nichts in der Welt rechtfertigt einen Palästinenser, der ein Kind auf dem Schoße seiner Mutter erschießt – genau so wie nichts einen Israeli rechtfertigt, der eine Bombe auf ein Haus wirft, in dem ein Kind in seinem Bett schläft. Es ist so, wie der jüdische Dichter Bialik vor hundert Jahren nach dem Kishinev Pogrom schrieb: "Nicht einmal der Satan hat die Rache für das Blut eines Kindes erfunden."
Ohne Verständnis kann man mit dieser Sache nicht fertig werden. Die Militärs haben eine einfache Lösung: zuschlagen, zuschlagen, zuschlagen! Tötet die Angreifer! Tötet ihre Befehlshaber!
Tötet die Führer ihrer Organisationen! Zerstört die Häuser ihrer Familien und weist ihre Verwandten aus dem Lande! Doch welch ein Wunder! Diese Methoden erreichen genau das Gegenteil. Nachdem der riesige IDF-Bulldozer die "Terrorinfrastruktur" dem Erdboden gleich gemacht hat, alles, was in seinem Wege stand, zerstört, getötet, ausgerissen hat, gab es innerhalb weniger Tage eine neue "Infrastruktur". Nach den Meldungen der IDF selbst hat es seit der Operation "Schutzschild" schon wieder täglich etwa 50 Warnungen vor drohenden Angriffen gegeben.
Den Grund dafür, könnte man in einem Wort zusammenfassen: Wut.
Eine schreckliche Wut, die die Seele eines Menschen so sehr erfüllt, dass kein Platz mehr für etwas anderes bleibt. Wut, die das ganze Leben eines Menschen beherrscht, so dass das Leben als solches unwichtig wird. Eine Wut, die alle Beschränkungen aufhebt, alle Werte auslöscht, alle Familienbande bricht, auch die der Verantwortung. Eine Wut, mit der jemand am Morgen aufwacht und am Abend zu Bett geht und nachts noch davon träumt. Es ist eine Wut, die zu jemandem sagt: steh auf, nimm eine Waffe oder einen Gürtel voller Sprengstoff, und geh zu ihren Häusern und töte, töte, töte! Ganz egal, welche Folgen es hat.
Ein normaler Israeli, der niemals in den palästinensischen Gebieten war, kann sich die Gründe der Wut überhaupt nicht vorstellen. Unsere Medien ignorieren total, was dort geschieht oder beschreiben dies nur in abgeschwächter, dosierter Form. Der durchschnittliche Israeli weiß irgendwie, dass die Palästinenser leiden (natürlich ist es ihre eigene Schuld), aber er hat keine Ahnung, was dort wirklich geschieht. Irgendwie betrifft ihn das nicht.
Häuser werden zerstört. Ein Kaufmann, ein Anwalt, ein gewöhnlicher Handwerker, der in seiner Gemeinde respektiert wird, wird übernacht ein Obdachloser, er und seine Kinder und seine Enkel. Jeder ein potentieller Attentäter.
Fruchtbäume werden zu Tausenden ausgerissen. Für den Offizier sind es nur Bäume, Hindernisse. Für den Besitzer ist es das Herzblut, das Erbe seiner Vorfahren, jahrelange, schwere Arbeit, der Lebensunterhalt der Familie. Jeder ein potentieller Selbstmordattentäter.
Auf einem Hügel zwischen den Dörfern hat eine Bande von Siedlern einen sog. Außenposten errichtet. Die Armee erscheint und verteidigt sie. Wenn die Dorfbewohner kommen, um ihr Land zu bearbeiten, werden sie beschossen. Es wird ihnen verboten, innerhalb eines 1-2 km breiten Streifens auf ihrem Land zu arbeiten, damit die Sicherheit des Außenpostens nicht gefährdet wird. Mit Wehmut sehen die Bauern von ferne, wie die Früchte an ihren Bäumen verfaulen, wie auf ihren Feldern Disteln und Dornen hoch wachsen, während ihre Kinder nichts zu essen haben. Jeder ein potentieller Selbstmordattentäter.
Leute werden getötet. Ihre zerrissenen Körper liegen auf der Straße – für jeden sichtbar. Einige von ihnen sind "Märtyrer", die sich ihr Schicksal gewählt haben. Aber viele andere – Männer, Frauen und Kinder – werden auf Grund eines "Fehlers", "versehentlich" getötet oder weil "sie zu fliehen versuchten" oder weil sie " in die Schusslinie" gerieten . Es gibt dafür hundert und ein Vorwände für die professionellen Sprecher. Die IDF entschuldigt sich nicht, Offiziere und Soldaten werden niemals für schuldig erklärt. "Im Krieg läuft es nun mal so!" Aber jeder der Getöteten hat Eltern, Geschwister, Cousins. Jeder ein potentieller Selbstmordattentäter.
Außer all dem leben die Familien am Rande einer Hungersnot, und Kinder leiden an schwerer Unterernährung. Die Väter, die ihren Kindern nichts zu essen geben können, sind verzweifelt. Jeder von ihnen ein potentieller Selbstmordattentäter.
Hunderttausende werden wochen- ja monatelang unter Ausgangssperre festgehalten, acht Personen zusammengepfercht in ein, zwei Räumen. Eine Hölle, wie man sie sich schwer vorstellen kann. Währenddessen amüsieren sich die Siedler auf der Straße und werden von den Soldaten noch beschützt. Ein Teufelskreis: Die Attentäter von gestern verursachen die Ausgangssperre, die Ausgangssperre schafft die Attentäter von morgen.
Dazu kommt die totale Demütigung, die jeder einzelne Palästinenser ohne Unterschied des Alters, des Geschlechtes, der sozialen Schicht in jedem Augenblick seines Lebens erfährt. Das ist keine abstrakte Demütigung, sondern eine sehr konkrete. Auf Tod und Leben von den Launen eines achtzehnjährigen Soldaten auf der Straße oder an den unzähligen Kontrollpunkten abhängig sein, an Straßensperren, die ein Palästinenser passieren muss, egal, wohin er will, während Banden von Siedlern unkontrolliert vorbeifahren oder palästinensische Dörfer "besuchen", Besitz beschädigen, die Oliven der Dörfler ernten oder deren Bäume in Brand setzen dürfen.
Ein Israeli, der dies nicht gesehen hat, kann sich solch ein Leben nicht vorstellen, eine Situation, in der "jeder Bastard ein König" und "der Sklave Herr geworden ist", eine Situation bestenfalls voller Flüche und Stöße, in vielen Fällen aber Drohungen mit Waffen, zuweilen mit tatsächlichem Schießen. Damit sind noch nicht die Kranken auf dem Weg zur Dialyse erwähnt, die hochschwangeren Frauen auf dem Weg zum Krankenhaus, die Studenten und Schüler, die ihren Unterricht, die Kinder, die ihre Schule nicht erreichen können. Die Jungen, die ihren verehrten Großvater von einem Jungen in Uniform mit Rotznase öffentlich gedemütigt sehen. Jeder ein potentieller Selbstmordattentäter.
Ein normaler Israeli kann sich all dies nicht vorstellen. Schließlich sind die Soldaten doch nette Jungs, unsere Söhne, gestern waren sie doch noch Schüler. Aber wenn man diese netten Jungs in Uniformen steckt, durch die Militärmaschine zieht und in die Situation der Besatzung bringt, dann geschieht etwas mit ihnen. Viele versuchen ihr menschliches Antlitz auch unter unmöglichen Situationen zu bewahren, viele andere werden zu Robotern, die Befehle ausführen. Und immer gibt es - in jeder Kompanie – einige psychisch gestörte Leute, die in solch einer Situation aufblühen und widerliche Dinge tun, weil sie auch wissen, dass ihre Offiziere ein Auge zudrücken oder einen anerkennenden Wink geben.
All dies rechtfertigt das Töten von Kindern in den Armen ihrer Mütter nicht. Aber es hilft zu begreifen, warum dies geschieht, und warum dies so weitergehen wird, solange die Besatzung besteht.
Uri Averny
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