Sie sind vermutlich noch nicht im Forum angemeldet - Klicken Sie hier um sich kostenlos anzumelden  

Herzlich Willkommen zu www.palaestinaonline.de

Ihre Registrierung ist erforderlich

Leider ist dieses Forum zurzeit deaktiviert

Sie können sich hier anmelden
Dieses Thema hat 0 Antworten
und wurde 293 mal aufgerufen
 Palästinaonline-Forum
Ethnologin Offline

madam

Beiträge: 271

24.10.2002 22:43
Tschetschenien Antworten

Der Philosoph André Glucksmann über das Leiden der Tschetschenen und die Moskauer Geiselnahme:

Der französische Philosoph André Glucksmann gehört zu den wenigen europäischen Intellektuellen, die sich nicht mit der Verdrängung des Tschetschenien-Krieges abfinden. Glucksmann, der Ende der Siebziger Jahre durch seine Abkehr vom Marxismus und seine massive Kritik am Kommunismus bekannt wurde, prangert seit langem das Vorgehen der russischen Armee in Tschetschenien als Völkermord an und beschuldigt den Westen des heuchlerischen Wegsehens. Über seine Bewertung der Geiselnahme im Moskauer Musical-Theater durch tschetschenische Rebellen sprach Hannes Stein mit André Glucksmann.

DIE WELT: Hat es Sie überrascht, dass 30 Tschetschenen 1000 Russen als Geiseln genommen haben?

André Glucksmann: Nein. Vor mehr als einem Jahr schrieb ich: Die Tschetschenen sind keine Bin-Ladenisten. Wären sie das, hätten sie längst ein zweites Tschernobyl herbeigeführt, denn im russischen Chaos ist alles möglich.

DIE WELT: Wie meinen Sie das?

Glucksmann: Es gibt 100.000 Tschetschenen in Russland, die alle mit irgendeinem Dorf in Tschetschenien verbunden sind, wo entsetzliche Dinge geschehen. Wir Europäer müssten den Tschetschenen jeden Tag auf den Knien danken, dass sie keine Gasanschläge auf die Metro verüben, dass sie keinen Kamikaze-Angriff auf ein Treibstofflager oder ein Atomkraftwerk starten.

DIE WELT: Und die Russen?

Glucksmann: Die müssten auch dankbar sein. Aber die Tschetschenen sind in einer furchtbaren Lage - gerade weil sie keine Bin-Ladenisten sind.

DIE WELT: Wieso?

Glucksmann: Vor zwei Wochen hat "Newsweek" eine Reportage veröffentlicht, in der beschrieben wird, wie die russische Armee sich in Tschetschenien benimmt. Russische Soldaten binden Männer, Frauen und Kinder zusammen - 20 oder mehr - und sprengen sie in die Luft. Sie vergewaltigen Frauen und Männer, öffentlich, vor den Augen des ganzen Dorfes. Es ist das Schlimmste, was in der heutigen Zeit passiert.

DIE WELT: Das Schlimmste?

Glucksmann: Ja. Und niemand sagt etwas. Gerhard Schröder gab zu Protokoll, er habe eine "differenzierte Sicht" der Lage in Tschetschenien. Und nach dem 11. September wurde behauptet, unter Bin Ladens Leuten in Afghanistan gebe es neben Pakistanis und Arabern eine starke Truppe von Tschetschenen.

DIE WELT: Stimmt das etwa nicht?

Glucksmann: Nein! Während des ganzen Afghanistankrieges wurde nie auch nur ein Tschetschene im Dienste Bin Ladens gefunden. Unter den Gefangenen auf Guantanamo befindet sich kein einziger Tschetschene!

DIE WELT: Und was heißt das?

Glucksmann: Man hat die Tschetschenen zweimal getötet; erstens, als man über ihr Schicksal schwieg, und zweitens, als man Lügen über sie verbreitete. Das zweite ist der moralische Tod. Es gibt Leute, die nicht verrückt vor Gottgläubigkeit sind, sondern vor Schmerz verrückt werden. Wenn man seine Frau, seine Kinder, seine Mutter unter schrecklichen Umständen verliert, kann man verrückt werden. Was heute in Moskau geschieht, ist eine Warnung. Die Tschetschenen könnten noch viel gefährliche Dinge anstellen.

DIE WELT: Was fordern Sie?

Glucksmann: Putin muss Frieden machen. Wir alle sollten wissen, dass die Tschetschenen jetzt in einer apokalyptischen Lage sind, und sie könnten aus diesem Grunde selbst Apokalyptiker werden. Bis jetzt war es leichter, in Moskau zu leben als in Tel Aviv. Das kann sich ändern.

DIE WELT: Nun ist dieser Konflikt ja nicht ganz neu ...

Glucksmann: Die Tschetschenen kämpfen seit 300 Jahren. Einmal, unter dem Zaren, umstellte die russische Armee ein tschetschenisches Dorf. Die Frauen tanzten bis zum Ende, bis die Armee das Dorf eingenommen hatte. Sie wurden auf ein kleines Schiff verladen, das sie ins Gefängnis transportieren sollte. Aber auf dem Fluss fielen die Frauen über ihre Wachsoldaten her und ertränkten sie. Solche Frauen findet man heute in dem Moskauer Musical-Theater.

DIE WELT: Haben die Russen dann nicht mit Recht Angst?

Glucksmann: Es gibt ungefähr 700.000 Tschetschenen und 150 Millionen Russen. Wenn Tschetschenien unabhängig wird, ist das also keine Gefahr für Russland.

DIE WELT: Sind die Geiselnehmer in Ihren Augen Terroristen oder Rebellen, Freiheitskämpfer?

Glucksmann: Man kann sie nennen, wie man will. Sie sind am apokalyptischen Ende der Geschichte angelangt. Sie haben alles verloren. Sie wissen, dass, wenn die Stummheit der Welt andauert, sie alle sterben werden, auch ihre Kinder. Sie haben keine andere Möglichkeit mehr.

DIE WELT: Mit diesem Argument werden auch die Selbstmordanschläge der Palästinenser gerechtfertigt?

Glucksmann: Das hat nichts miteinander zu tun! Sie müssen wissen: Seit zwei Jahren sind 10.000 russische Soldaten gefallen - und 80.000 Tschetschenen wurden umgebracht. Die Lage der Palästinenser ist nicht fabelhaft, aber das hier ist eine andere Dimension: Ein Zehntel der Tschetschenen wurde ermordet. Dieser Krieg ufert aus in einen Genozid.

DIE WELT: Woher wissen Sie das?

Glucksmann: Ich war vor zwei Jahren dort und habe alles gehört, was passiert. Der einzige russische Soldat, der sich vor Gericht verantworten musste, war Oberst Bulganow; er hatte ein 18-jähriges Mädchen vergewaltigt und erwürgt. Er ist bis heute nicht verurteilt.

DIE WELT: Wenn es in Moskau ein Blutbad geben sollte - wer wäre dann schuld?

Glucksmann: Wer hat angefangen, Tschetschenien zu vergewaltigen? Wer ist schuld, wenn ein Volk von 150 Millionen eine ganze Armee gegen ein Volk von 700.000 Leuten schickt? Aber es ist nicht nur eine Frage der Schuld. Es ist eine Frage des Realismus: Dies ist die letzte Warnung vor der Apokalypse. Man muss jetzt Frieden machen. Das kann nur der Stärkste. Und der Stärkste ist Putin.


http://www.welt.de/daten/2002/10/25/1025ku364347.htx

 Sprung  
*********************************************************************************************************** Neue Benutzer werden erst nach Mail-Bestätigung frei geschaltet
Xobor Xobor Forum Software
Einfach ein eigenes Forum erstellen
Datenschutz