Wer ist antisemitisch ?
von Richard Cohen, Washington Post, 30. April 2002
Wenn ich nicht Jude wäre, würde man mich wohl einen Antisemiten nennen. Ich bin schon häufiger kritisch gegenüber Israel gewesen. Ich habe schon mal für die Palästinenser Partei ergriffen. Ich habe schon immer gesagt, dass die Besetzung der West Bank falsch ist und obwohl ich doch letztendlich Israel unterstütze, bestehe ich darauf, dass die palästinensische Sache, auch wenn sie vom Terrorismus besudelt wird, es wert ist.
In Israel selbst fällt man mit solchen Ansichten gar nicht weiter auf. Leute mit ähnlichen Ansichten sitzen im Parlament, andere schreiben für Zeitungen. Und wenn sie auch manchmal heftigst kritisiert werden, werden diese Menschen weder als Antisemiten noch als sich selbst hassende Juden bezeichnet.
Das kann man von Amerika nicht behaupten. Hier wird Kritik an Israel, vor allem Antizionismus mit Antisemitismus gleichgesetzt. Die Anti-Defamation League, eine der bedeutendsten amerikanisch-jüdischen Organisationen, kommt sofort. "Der Antizionismus zeigt sein wahres Gesicht, das häßliche Gesicht des Antisemitismus." So lautet der Slogan, den diese Organisation auf einer vollen Seite des New Republic und anderer Magazine veröffentlicht hat. "Die arabischen Staaten verbergen nicht mehr ihren Haß gegenüber Juden hinter dem fadenscheinigen Argument der Israelkritik"
Doch Antizionismus, also der Haß und der Kampf gegenüber Israel, ist nicht gleich Antisemitismus, dem generellen Haß auf Juden nämlich aufgrund von Vorurteilen. Wenn ich Palästinenser wäre und in einem Flüchtlingslager leben würde, würde ich wahrscheinlich auch Israel hassen und vielleicht würde ich Juden ganz allgemein nicht besonders mögen.
Denn Israel hat sich ja selbst zum Staat der Juden erklärt. Es feiert ganz offiziell jüdische Feiertage, einschließlich des Shabbats am Samstag. Es erlaubt dem orthodoxen Rabbinat die Kontrolle über säkulare Angelegenheiten, wie Eheschließung und es bietet jedem, der einigermaßen plausibel erklären kann, dass er Jude ist, die Staatsbürgerschaft an. Dieses sogenannte "Rückkehrrecht" erlaubt es diesem Menschen, an einen Ort "zurückzukehrenn", an dem er noch nie zuvor war. Palästinenser müssen das einfach nur recht seltsam finden.
Antizionismus oder Kritik an Israel im allgemeinen mit Antisemitismus gleichzusetzen bedeutet, dass man dieser Person diesselben Motive unterstellt wie den Nazis oder dem randalierenden Mob der Pogrome. Der Haß dieser Menschen war nicht nachvollziehbar und unbegründet, er basierte auf einer wirren Rassentheorie oder abweichendem religiösem Eifer. Somit wird jeder Kritik, wie legitim sie auch sein mag, jegliche Gültigkeit abgesprochen und man will sie als puren Ausdruck von Vorurteilen abwerten.
Sicher, es gibt einen Anstieg von Antisemitsmus in Europa. Doch es gibt auch eine Zunahme der Kritik an Israel, die mit Antisemitismus nichts zu tun hat. Als Israel vor kurzem vier pro-palästinensische Schweden, darunter zwei Ärzte, inhaftiert und dann deportiert hat unter dem Vorwand, alle die, die die palästinensische Sache unterstützen seien Staatsfeinde, hätte dieser Vorfall verurteilt werden müssen, und die Schweden hätten nicht als Antisemiten betrachtet werden sollen.
Als dasselbe einem japanischen Arzt widerfuhr, hätte dies auch verurteilt werden sollen, und ist auch von der israelischen Zeitung Haaretz kritisiert worden. In seiner Kolumne wies Gideo Levy darauf hin, daß Israel nicht jegliche Kritik gebetsmühlenartig mit dem ewigen Spruch:"Die ganze Welt ist gegen uns" abtun kann.
Dasselbe gilt für amerikanische Juden. Die Palästinenser immer nur zu ignorieren, sie alle als Fanatiker zu entwürdigen, führt nur zu einem Anstieg des Hasses auf beiden Seiten. Die Palästinenser kämpfen für ihre Sache. Ihre Methoden mögen zwar manchmal scheußlich sein, aber das ändert nichts daran, daß sie ein Volk ohne Staat sind. So lange dieser Zustand anhält, so lange wird auch ihr Widerstand anhalten.
Der einzige Weg raus aus dieser Misere ist es, dem anderen zuzuhören. Gegen die schlechten Lebensbedingungen in der West Bank zu protestieren ist nicht Antisemitismus. Den anhaltenden Siedlungsbau zu verurteilen ist nicht Antisemitismus. Gegen die Zensur zu protestieren, die Israel manchmal der internationalen Presse auferlegt, ist nicht Antisemitismus.
Zu behaupten, dass Sharon ein Friedensgegner ist, der die Palästinenser drangsaliert, ist kein Antisemitismus. Es ist Kritik, die genau so tief in religiösem Eifer verwurzelt ist, wie die Aussage, dass Yassir Arafat lügt und man ihm nicht trauen kann. Das macht mich noch lange nicht zum Araberhasser, sondern vielmehr zu einem Realisten, der genug von blödsinnigen Bezeichnungen hat.
Vor Gott sind alle Menschen gleich