Fabrik für Antisemitismus
Saddam Hussein erstes israelische Opfer war der zionistische Mythos, auf dem wir seit unserer Kindheit erzogen worden sind. Dieser Mythos lehrte, dass Israel die sichere Zufluchtstätte der Juden in der Welt sei. In allen Ländern leben die Juden in ständiger Angst, dass plötzlich ein grausamer Feind auferstehe, wie es den deutschen Juden passierte. Israel ist ein sicherer Zufluchtsort, zu dem die Juden vor der Gefahr fliehen könnten. Dafür haben es die Gründungsväter gegründet.
Jetzt kommt Saddam und beweist das Gegenteil. Überall auf der Welt leben die Juden in Sicherheit und nur an einem Ort werden sie mit Vernichtung bedroht: Israel. Da werden Nationalparks als Massengrabstätte vorbereitet, da werden (pathetische) Maßnahmen eingeleitet gegen eine chemische und biologische Katastrophe. Viele bereiten sich schon vor aus dem Land zu flüchten, in die traurige Diaspora. Ende des Mythos.
Davor starb ein anderer zionistischer Mythos. Die Diaspora, so lernten wir in unserer Jugend, produziert Antisemitismus. Die Juden leben überall als Minderheit, und eine Minderheit zieht den Hass der Mehrheit auf sich. Wenn aber die Juden sich im Land ihrer Väter versammeln und dort eine Mehrheit werden, wird der Antisemitismus in der Welt verschwinden. So sagte es Herzl.
Jetzt stirbt auch dieser Mythos endgültig. Genau das Gegenteil passiert: Der Staat Israel ist es, der in der ganzen Welt für Antisemitismus sorgt, und dieser bedroht die Juden überall. Sharons Regierung ist ein riesiges Laboratorium zur Entwicklung des Antisemitismus-Virus. Und sie exportiert ihn in die ganze Welt. Antisemitische Organisationen, die mit Mühe und Not die letzten zich Jahre überlebt haben, am Rande der Gesellschaft, verachtet und missachtet, wachsen und gedeihen plötzlich in vielen Ländern. Der Antisemitismus, der seit dem Zweiten Weltkrieg sein Haupt in Schande versteckt hat, reitet jetzt auf einer großen Welle der Abneigung der Unterdrückungspolitik Israels. Sharons Propagandisten gießen noch Öl ins Feuer, wenn sie behaupten, dass jeder, der Sharon kritisiert ein Antisemit sei. Sie kleben dieses Etikett vielen Menschen, darunter auch solchen, die in ihrem Herzen keine Hass gegenüber Juden haben, die aber die Misshandlung der Palästinenser durch Sharon verachten. Diese werden jetzt Antisemiten genannt. Und so wird der Stachel aus diesem Wort entfernt und es wird beinahe schon ein Kompliment.
Das bedeutet: Nicht nur, dass Israel die Juden vor dem Antisemitismus nicht schützt, im Gegenteil, Israel produziert und exportiert den Antisemitismus, der die Juden in der Welt bedroht.
Während vieler Jahre genoss Israel die Unterstützung der demokratischen Welt. Es war das Land der Holocaust-Überlebenden, ein kleines aber tapferes Land, welches um seine Existenz kämpft gegenüber den immer wieder anfallenden Attacken der mörderischen Araber. Dieses Image wechselt langsam in ein anderes Bild: Das eines grausamen Staates, welches erobert und zerstört, ein kleines, erobertes und schutzloses Volk misshandelt. Der Verfolgte wurde Verfolger, David verwandelte sich in Goliath.
Wir in Israel, die wir in einer Blase von selbstgemachter Gehirnwäsche leben, können uns schwer vorstellen, wie uns die Welt sieht. Im Fernsehen und in den Zeitungen vieler Länder erscheinen Tag für Tag Berichte und Reportagen, die palästinensische Kinder zeigen, wie sie Steine auf furchterregende Panzer werfen; Soldaten die an den Straßensperren Frauen quälen; verzweifelte Greise, die auf den Trümmern ihrer zerstörten Häuser sitzen; Unmenschliche Soldaten, die auf Kinder zielen und schießen. Unmenschlich – weil auf den meisten Bildern sieht man nicht Soldaten als Menschen in Uniform, wie „die Kinder des Nachbarn“, so wie sie bei uns gezeigt werden, sondern gesichtslose Roboter, bedeckt mit Stahlhelmen und von Fuß bis Kopf bewaffnet. Wer Hunderte und Tausende solche Bilder gesehen hat, fängt an das ganze Land so zu sehen.
Was die Juden betrifft, so entstand hier ein gefährlicher Zauber-Kreis. Sharons Taten erwecken in der Welt Abneigung und Abscheu. Das stärkt den Antisemitismus. Angesichts dieser Gefahr werden die jüdischen Institutionen gedrängt Israel zu verteidigen und sich uneingeschränkt mit Israel zu identifizieren. Diese Identifizierung ermöglich den Antisemiten nicht nur Israel anzugreifen, sondern auch die lokalen Juden. Und so weiter.
In Europa fühlen sich die Juden bedrängt, aber in den USA fühlen sie, dass sie „fest im Sattel“ sind. In Europa lernten die Juden im Laufe der Generationen, dass es nicht klug ist sich vorzudrängen und ihr Reichtum und Einfluss zu zeigen. In den USA passiert aber genau das Gegenteil: Das jüdische Establishment tut alles um zu zeigen, dass er das Land regiert. Alle paar Jahre beschließt die jüdische Lobby irgend einen Politiker, der Israel nicht bedingungslos unterstützt, zu erledigen. Es wird ihm eine „gezielte Vernichtung“ vorbereitet, nicht versteckt hinter den Kulissen, sondern eine öffentliche Hinrichtung.
So geschehen erst kürzlich einer schwarzen Kongress Abgeordneten, Sintia McKinny, einer jungen Frau, aktiv, intelligent, sehr sympathisch, die es gewagt hat Sharons Politik zu kritisieren und die Palästinenser zu unterstützen, wie auch die Friedens-Organisationen in Israel. Das jüdische Establishment fand eine schwarze Gegenkandidatin, die völlig unbekannt war, stellte ein Vermögen zur Verfügung und besiegte Sintia. All das offen und öffentlich mit Pauken und Trompeten, damit sie „sehen und fürchten“, damit jeder Senator und Kongressmann weiß, dass eine Kritik an Sharon gleich Selbstmord ist.
Jetzt wiederholt sich die Geschichte in groß, in der Irak-Affäre. Die pro israelische Lobby, die aus Juden und aus radikal-rechten christlichen Fundamentalisten besteht, drängt die amerikanische Regierung in den Krieg. Auch das offen, vor den Augen der amerikanischen Öffentlichkeit. Viele Artikel in den wichtigen amerikanischen Zeitungen berichten darüber, als eine gewöhnliche politische Tatsache.
Und was wird sein, wenn der Krieg fehlschlägt? Wenn es unerwartete negative Folgen geben wird und viele amerikanische Burschen getötet werden? Wenn die amerikanische Öffentlichkeit den Krieg verurteil, wie es im Vietnam-Krieg geschah? Man kann es sich leicht vorstellen: „Die Juden haben uns dazu gezwungen“, „die Juden unterstützen Israel auf Kosten Amerikas“, werden die Menschen sagen. Und dann ist es nicht mehr weit zu. „Die Juden herrschen in unserem Land“. Mehr noch, Sharon könnte, früher oder später, für eine Revolution in der arabisch-moslemischen Welt sorgen. Diese wird katastrophal enden für die amerikanischen Interessen. Amerikas Juden, die sich heute total mit Israel identifizieren, könnten den Preis dafür zahlen.
Wie auch immer, die hervorstechende Stellung der amerikanischen Juden in vielen Bereichen, die Beherrschung der Medien, der riesige Einfluss auf die Regierung und den Kongress, könnte eines Tages eine Gegenreaktion hervorbringen. Zwar ermöglich die besondere politische Kultur der Vereinigten Staates so was nicht, aber das traf auch zu für das Goldene Zeitalter der Juden in Spanien und für das Deutschland der Weimarer Republik. Die Geschichte muss sich zwar nicht wiederholen, aber man sollte auch nicht die Lehren aus der Geschichte missachten.
Es gibt in Israel Menschen, die sich im Geheimen die Wiederbelebung des Antisemitismus in der Welt wünschen. Das wird ein weiteres zionistisches Mythos bestätigen: Das die Juden nirgends auf der Welt leben können, außer in Israel, weil der Antisemitismus in allen Ländern stärker werden „muss“. Aber die USA sind nicht Frankreich oder Argentinien. Sie hat eine besondere Verantwortung in unserer Region. Die nationale Sicherheit Israels, wie es schon durch Ben-Gurion festgelegt worden ist, basiert auf die uneingeschränkte Unterstützung der USA. Militärisch, politisch und wirtschaftlich.
Würde man mich nach meiner Meinung fragen, würde ich den jüdischen Gemeinden in der Welt folgendes raten: Zerbricht diesen Zauberkreis. Entwaffnet die Antisemiten. Befreit euch von der automatischen Solidarität mit allem, was unsere Regierungen tun. Lasst euer Gewissen reden. Kehrt zurück zu den traditionellen jüdischen Werten von „Gerechtigkeit, Gerechtigkeit sollst Du suchen“. Solidarisiert euch mit dem anderen Israel, welches für solche Werte kämpft. Immer mehr jüdische Organisation in aller Welt fangen an diesen Weg zu beschreiten und sie brechen damit einen weiteren Mythos: Die bedingungslose Kapitulation der Juden in aller Welt vor der israelischen Regierung.
Uri Avnery
Vor Gott sind alle Menschen gleich